Volltext: Vorwort (1790) 1. Ausgabe (HAAB)

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Plan, Ankündigung und Vorbericht des Werks.

Vorwort, S. 1.

Ein Bilderbuch ist für eine Kinderstube ein eben so wesentliches und noch unentbehrlicheres Meuble als die Wiege, die Puppe, oder das Steckenpferd. Diese Wahrheit kennt jeder Vater, jede Mutter, jeder der Kinder erzogen hat, und von Locke an bis auf Basedow, Campe und Salzmann, empfiehlt jeder vernünftige Pädagog, den frühesten Unterricht des Kindes durchs Auge anzufangen, und ihm so viel gute und richtige Bilder und Figuren, als man nur kann, vor das Gesicht zu bringen. Seit der alte Comenius den ersten glücklichen Gedanken hatte, diesem wesentlichen Bedürfnisse der Erziehung durch seinen famosen Orbis pictus abzuhelfen, und diese Idee, aber noch roh genug, auszuführen, haben mehrere Kinderfreunde der Pädagogik und unsrer kleinen Welt ein solches Geschenk zu machen gesucht, aber freylich nicht immer mit gleichem Glücke und gleicher Brauchbarkeit. Ich fühle keinen Beruf, ihre Fehler hier zu entwickeln, die ein jeder beym Gebrauche leicht selbst finden wird: ich will vielmehr nur einen Fingerzeig aus die Eigenschaften geben, die ein gutes Bilderbuch für Kinder haben muss. Folgende, denk' ich, sind es.

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Vorwort, S. 2.

1) Es muss schön und richtig gezeichnete und keine schlecht gestochne Kupfer haben, weil nichts wichtiger ist, als das Auge des Kindes, gleich vom Anfange an, nur an wahre Darstellung der Gegenstände, richtige Verhältnisse, Eindrucke und Begriffe, die es der Seele geben kann, und an schöne Formen und guten Geschmack zu gewöhnen. Man kann nicht glauben, wie begierig die Einbildungskraft eines Kindes die ersten bildlichen Eindrücke fasst; wie fest sie dieselben hält, und wie schwer es hernach ist, falsche Bilder und Begriffe, die sie dadurch empfieng, in der Folge wieder wegzuschaffen. Gute oder schlechte Kupfer thun hierbey alles, und können bey Kindern entweder grossen Nutzen oder wahres Unheil stiften. Ein dergleichen Bilderbuch muss daher durchaus nicht von einem Zeichner nur aus der Idee hingezeichnet und komponirt werden, denn Ein Zeichner ist meistens nur in Darstellung Einer Art von Gegenständen, z.E. Menschen, zahmen Vieh, wilden Thieren, Vögeln, Blumen u.s.w. ganz Meister, und in allen andern unwahr und manierirt; sondern es muss vom Redacteur mit Sachkenntniss, Auswahl und gutem Geschmacke, aus einer grossen Menge Werke, deren man jedes für das vollkommenste in diesem oder jenem Fache hält, zusammengetragen und sorgfältig kopirt werden.

2) Es muss nicht zu viele und zu sehr verschiedene Gegenstände auf Einer Tafel zusammendrängen; sonst verwirrt es die Imagination des Kindes und zerstreut seine Aufmerksamkeit, wenn der Lehrer sie gern auf einen einzigen Gegenstand der Tafel heften möchte. Das Auge des lebhaften Kindes sieht ganz anders als das Auge des Mannes, das sich beschränken und abstrahiren kann. Das Kind aber sieht die ganze Menge höchst verschiedener Bilder und Gegenstände, die auf der Tafel zusammen stehen, alle auf einmal, springt mit seiner lebhaften Imagination von einem zum andern über, und so ists dann dem Lehrer nicht möglich, seine Aufmerksamkeit nur auf Einen Gegenstand zu fixiren. Die Kupfer zu Basedows Elementar-Werke und noch mehr Stoys Bilderakademie haben diesen wesentlichen Fehler.

3) Es muss die Gegenstände nicht zu klein darstellen, und die auf einer Tafel zusammengestellten müssen, wo möglich, in Rücksicht ihrer natürlichen Grösse, richtige Verhältnisse gegen einander haben. Ein Umstand, den ich fast in allen vernachlässigt gefunden habe. So ist z.E. im neuen Orbis pictus, auf Taf. III. eine Weintraube so gross als ein Stuhl, ein Beil so gross als ein Thurm, und auf Taf. V. ein Eich-

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Vorwort, S. 3.

horn so gross als ein Rennthier. Wie soll nun das Kind Ideen von richtigen Verhältnissen der Dinge bekommen?

4) Es muss sehr wenig und nicht gelehrten Text haben; denn das Kind liest und studiert ja sein Bilderbuch nicht, sondern will sich nur damit amüsiren. Der richtige Name und eine kurze, den Verstandes-Kräften des Kindes angemessene Erklärung des auf dem Kupfer vorgestellten Gegenstandes; diess ist Text genug. Das Uebrige muss der Lehrer hinzuthun, wenn er eins oder das andere Kupfer des Bilderbuchs zur Grundlage einer Unterhaltung oder Lection mit dem Kinde macht. Er mag vorher ausführlichere Werke darüber nachlesen, und sich mit der Materie über die er sprechen will, vollständig bekannt machen, denn für ihn soll ja das Bilderbuch nicht unterrichtend seyn.

5) Es muss wo möglich fremde und seltene, jedoch instructive Gegenstände enthalten, die das Kind nicht ohnediess schon täglich sieht. Iene interessiren und unterhalten es nur, weil sie den Reiz des Raren und Wunderbaren haben. Bilder von bekannten und alltäglichen Dingen reizen und amüsiren hingegen das Kind nicht, weil es die Manier und Kunst der Darsteilung bey weiten noch nicht, wie der Mann, fühlen und einsehen kann, und blos auf den fremden und neuen oder schon bekannten Gegenstand sieht, der ihm Freude und Zeitvertreib, oder Langeweile macht. An diese gewiss wichtige Bemerkung scheinen die bisherigen Orbis-pictus-Macher wenig oder gar nicht gedacht zu haben.

6) Es muss gut, aber nicht zu kostbar, und so von Preisse und Werthe seyn, dass auch mittelmässig bemittelte Eltern dasselbe nach und nach anschaffen, und dem Kinde ganz zum Gebrauche übergeben können. Das Kind muss damit völlig umgehen können wie mit einem Spielzeuge; es muss darinn zu allen Stunden bildern, es muss es illuminiren; ja sogar, mit Erlaubniss des Lehrers, die Bilder ausschneiden und auf Pappendeckel kleben dürfen. Der Vater muss ein Bilderbuch für Kinder nicht als ein gutes Bibliotheken-Werk, das ohnediess nicht in Kinderhände gehört, behandeln, es schonen, und nur zuweilen zum Ansehen hergeben wollen. Kostbare Bilder-Bücher, welche Kinder schonen müssen, und nur zuweilen unter strenger Aufsicht zu sehen bekommen, unterrichten das Kind bey weiten nicht so gut, als ein minder kostbares, das es aber immer in den Händen und vor Augen hat.

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Vorwort, S. 4.

7) Es muss dem Kinde nicht auf einmal ganz, und etwa in einem grossen dicken Bande, sondern einzeln und nur Heftweise von den Eltern oder dem Lehrer übergeben werden, denn dadurch wird der Genuss und die Freude des Kindes an demselben gar sehr erhöhet und verlängert; und diese successiven Lieferungen können selbst, als eben so viele aufmunternde und belohnende Geschenke für sein Wohlverhalten, von den Eltern oder dem Lehrer behandelt werden.

8) Es muss, bey aller anscheinenden Regellosigkeit der Anordnung, dennoch eine gewisse versteckte Ordnung in der Folge der Gegenstände darinn herrschen, welche der Lehrer alsdann, wenn das Kind reifer wird, benutzen, und es dadurch auf ein systematisches Arrangement führen kann.

Diess sind nur einige der wesentlichsten Eigenschaften eines brauchbaren Bilderbuchs für Kinder, und die ich gegenwärtigem neuen, das ich hierdurch anzeige, zu geben gedenke. Ein zu Paris i.J. 1789 erschienener ähnlicher Versuch, der unter dem Titel: Portefeuille des Enfans, unter des Hrn. Cochins Direction, heftweise erschien, der aber nichts weniger als fehlerfrey ist, hat mich auf den Gedanken geleitet, diese Einrichtung für unsere junge Welt nachzuahmen, und so viel möglich seine Fehler in meinem Bilderbuch für Kinder zu vermeiden. Einige junge Kupferstecher und Künstler welche, als geschickte Zöglinge, des hiesigen Fürstl. freyen Zeichen-Instituts, sich unter der Special-Direction und Führung des Herrn Rath Kraus und Herrn Kupferstecher Lips in ihrer Kunst üben und vervollkommen, biethen mir hierzu die beste Gelegenheit dar.

Diess Bilderbuch für Kinder wird also unter Aufssicht des hiesigen Fürstlichen freyen Zeichen-Instituts und unter Special-Direction des Hrn. Kupferstecher Lips erscheinen, und von mir, nach obigen Grundsätzen, mit möglichster Sorgfalt zusammengetragen und bearbeitet werden.

Obiges sagte ich vor einem Paar Monaten, in der Ankündigung dieses Werks, und das Publikum kann nun aus gegenwärtiger und den folgenden Lieferungen urtheilen,


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Vorwort, S. 5.

in wie weit ich meinem Plane treu geblieben bin oder nicht. Ich habe aber noch ein Paar Worte zur Erläuterung der inneren Einrichtung und des Arangements dieses Werks zu sagen.

Ich habe aus guten Gründen die Kupfer-Tafeln links, und das dazu gehörige Blatt Text rechts heften lassen, weil Kinder immer die Gewohnheit haben, mit der rechten Hand thätiger zu seyn, als mit der linken, auf alles, was sie ansehen oder dem Andern zeigen, mit dem Finger zu weisen, und sonderlich beym Lesen den Zeilen mit dem Finger zu folgen. Stehen die Kupfer nun linker Hand, und der Text auf der rechten, so werden jene weit mehr geschont, und das Kind kann sich auch beym Lesen der Erklärung besser helfen, ohne die Figuren mit dem rechten Arme zu verdecken.

Das Blatt der Erklärung ist immer nur auf Einer Seite gedruckt, damit das Kind, zu dessen Amüsement und Beschäftigung diess Bilderbuch ganz allein bestimmt ist, die Kupfer herausnehmen, die schwarzen illuminiren, auf Pappendeckel aufziehen, den Text hinten auf den Rücken der Kupfer kleistern, und zu seinem Vergnügen in seiner Kinderstube aufhängen kann; denn so frey muss es durchaus damit umgehen können und dürfen, wenn es ihm Vergnügen und Nutzen schaffen soll. Ebendeswegen habe ich die Anschaffung des Bilderbuchs so ganz ungebunden gemacht und blos auf einzelne Hefte gestellt, dass man jeden Defect leicht wieder ersetzen kann.

Dass die Kupfer ohne alles anscheinende System und Ordnung mit möglichster Abwechselung und Mannigfaltigkeit, und so wie sie die Natur in der Welt selbst gewöhnlich dem Auge darbietet, auf einander folgen, ist durchaus nöthig. Ein Kind, das so bald über einerley Gegenständen ermüdet, Minuten-schnell in seinem Vergnügen wechselt, äusserst lebhaft ist, immer was neues und anderes sehen will, kann unmöglich eine systematische Folge von vielen Platten mit einerley oder sich doch sehr ähnlichen Gegenständen, z.E. lauter Fische, Vögel, Insecten, menschliche Trachten u.s.w. aushalten, ohne zu ermüden und das Vergnügen zu verliehren. Daher habe ich die krellste und bunteste Mischung der Gegenstände gemacht, und bitte nur immer, wenn man mich desshalb [sic] tadeln wollte, zu bedenken, dass ich es mit Kindern zu thun habe, die ich blos amüsiren will.

Um


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Vorwort, S. 6.

Um aber diess bilderreiche Chaos doch für den Lehrer, das Register eines jeden Bandes, und den, der in der Folge etwas darin nachschlagen wollte, nur auf irgend eine Art in Ordnung und Folge zu erhalten, habe ich 1) die mit einander verwandten verwandten Gegenstände, z.E. vierfüßige Thiere, Vögel, Fische, Insecten, Pflanzen, Menschen-Arten und Trachten u.s.w. unter Suiten gebracht, und nach diesen die Kupfer numerirt; ferner habe ich zum Behufe des Registers über jedes Blatt Text Band und Nummer gesetzt, wohin es gehört, wornach also einmal gar leicht das Werk von dem Buchbinder rangirt werden kann, wenn auch die unter sich numerirten Hefte zerrissen seyn sollten. Ich habe ferner den Text des Bilderbuchs mit lateinischen Lettern drucken lassen, weil ich herzlich wünschte, dass wir endlich unserer altfränkischen widrigen teutschen Mönchsschrift loswerden, und in teutschen Werken auf die lateinischen weit schöneren Typen aller abendländischen Völker von Europa allgemein übergehen könnten, wie es England und Frankreich schon vor etlichen Jahrhunderten gethan hat. Ich weiss, dass sich hierin kein rascher Schritt thun lässt, und dass wir den Uebergang erst in den Schulen lange vorbereiten müssen, um das Auge der neuen Generation, gleich vom Anfange an, an neue Formen der Buchstaben zu gewöhnen. Da ich nun gerade ein Buch für Kinder schreibe, so halte ich es für Pflicht, mein Scherflein zum Ganzen mit beyzutragen. Thun 5000 bis 6000 Schriftsteller diess eben so wie ich in Teutschland, so wird die Reforme bald bewürkt seyn. Weimar den 16. April 1790.

F.J. Bertuch